"Die wichtigeste Wahl seit Jahrzehnten"

Doppelinterview: Kirchhoff und Giesler zu Europa. Wenige Tage vor der Europawahl zeigen die Metall-Tarifpartner in Nordrhein-Westfalen Flagge.

| In den Medien

Der Arbeitgeberverband Metall NRW und die IG Metall NRW haben vor ihren Zentralen in Düsseldorf die blaue Europa-Fahne gehisst. Wir sprechen mit ihren Chefs über die Bedeutung der Wahl.

RP: Herr Giesler, gehen Sie zur Wahl und wissen Sie schon, wen Sie wählen?
Giesler: Natürlich gehe ich zur Wahl, sie ist immens wichtig. Es geht um große Themen, und wir müssen verhindern, dass Rechtspopulisten und Nationalisten die Politik in Europa bestimmen. Wer meine Vita kennt, kann sich vorstellen, was ich wähle.
Kirchhoff: Die Europawahl ist die wichtigste Wahl seit Jahrzehnten. 75 Prozent unserer Gesetze werden mittlerweile in Europa gemacht. Europa sichert Wohlstand und Frieden. Den Extremisten werden in Umfragen bereits 20 Prozent der Stimmen vorhergesagt, das dürfen wir nicht zulassen. Ich hoffe, das Brexit-Votum ist uns eine Lehre. Es kam auch zustande, weil viele Europa-Befürworter zuhause geblieben waren.

RP: Und wen wählen Sie?
Kirchhoff: Das ist die Privatsache jedes Einzelnen. Wichtig ist, dass die Menschen überhaupt teilnehmen – sei es am 26. Mai oder vorher per Briefwahl.

RP: Auch wenn sie die AfD wählen?
Kirchhoff: Wir sind gegen Extremismus. Wir als Verband geben aber keine Wahlempfehlung ab.
Giesler: Da sind wir ganz klar: Die Menschen sollen zur Wahl gehen, aber sie sollen nicht AfD wählen. Die Partei hat kein humanistisches Menschenbild, sie schürt Nationalismus und ist gegen Europa.

RP: Sie nennen die Europawahl wichtig, dennoch gehen viele nicht wählen oder nutzen sie als Denkzettel-Wahl. Wie erklären Sie sich das?
Kirchhoff: Wir müssen alle wieder besser über Europa reden. Wir stellen zu wenig die Errungenschaften heraus – Frieden, Freiheit, Wohlstand. Und wir machen Europa gerne zum Sündenbock für Dinge, die an anderer Stelle schiefgelaufen sind.

RP: Und was muss besser werden in Europa?
Giesler: Europa muss sozialer werden, dann findet es auch wieder mehr Zustimmung. Dazu brauchen wir einen europäischen Mindestlohn. Nur so lässt sich verhindern, dass Menschen ausgebeutet oder die Arbeitnehmer verschiedener Länder gegeneinander ausgespielt werden.

RP: Und wie hoch soll der liegen?
Giesler: 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns. Das wäre auch verkraftbar, alle Prophezeiungen von Wirtschaftsexperten, der Mindestlohn in Deutschland vernichte Jobs, haben sich nicht erfüllt.
Kirchhoff: Einen europäischen Mindestlohn halte ich für falsch. Europa sollte sich auf seine Kernaufgaben besinnen. Wir sind gut mit dem Subsidiaritätsprinzip gefahren, wonach jedes Land die Dinge erstmal für sich selbst regelt. Und grundsätzlich ist Lohnfindung bei uns Sache der Tarifpartner, da sollte sich der Staat raushalten.
Giesler: Richtig, aber es muss Leitplanken geben. Wenn die Tarifpartner zu schwach sind, einen branchenweiten Tarifvertrag zu schließen, muss der Staat eben dafür sorgen, dass Mindeststandards eingehalten werden.

RP: Paketbranche, Einzelhandel, Gaststätten - haben die Tarifpartner versagt?
Giesler: Wenn die Arbeitgeber tariflose Firmen in Ihren Reihen dulden, befeuert das zumindest die Tarifflucht.
Kirchhoff: Ich bitte Sie, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen gemeinsam auf eine hohe Tarifbindung hinwirken.

RP: Brauchen wir eine Generalunternehmerhaftung?
Giesler: Ja, das zeigen die Missstände bei Paketdiensten. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Tagelöhner aus Osteuropa hier im Auto schlafen müssen, mit dem sie auch die Pakte ausfahren. Im Bau haben wir mit der Generalunternehmerhaftung auch gute Erfahrungen gemacht.
Kirchhoff: Verstöße müssen geahndet werden, auch wir wollen, dass die Menschen anständig bezahlt werden. Aber eine generelle Generalunternehmerhaftung lehnen wir ab, sie bedeutet nur noch mehr Bürokratie. Wie soll ein Fünf-Mann-Betrieb jeden Sub-Subunternehmer kontrollieren? Outsourcing gab es im Übrigen schon immer, früher hieß das nur Arbeitsteilung.

RP: Juso-Chef Kevin Kühnert hat noch ganz andere Ideen: Er will gleich ganze Betriebe sozialisieren.
Giesler (lacht): Verstaatlichung löst doch keine Probleme. Kevin Kühnert hat sich da sehr populistisch geäußert, und er tut seiner Partei keinen Gefallen.
Kirchhoff: Genau! Der Staat ist kein besserer Unternehmer, das lehren uns nicht nur Zusammenbrüche von sozialistischen Staaten, sondern auch viele andere Beispiele wie Landesbanken.

RP: Nun will der Bundeswirtschaftsminister nationale Champions staatlich  …
Kirchhoff: Auch davon halte ich nichts. Die Stärke Deutschlands sind auch Mittelstand und Familienunternehmen, dort stieg die Beschäftigung in den letzten zehn Jahren um 27 Prozent, in den Dax-Konzernen dagegen nur um vier Prozent. Es gibt keinen Grund, einseitig große Konzerne zu fördern. Gleichwohl würde es mich freuen, wenn aus der Bahnfusion Siemens-Alstom noch was würde.

RP: Warum?
Kirchhoff: Das wäre eine gute Antwort Europas auf den globalen Wettbewerb. China, das seine Industrien massiv fördert, eilt hier davon.

RP: Brauchen wir eine europäische Arbeitslosenversicherung?
Giesler: Wir haben eine gute Arbeitslosenversicherung in Deutschland. Ich fürchte, dass es zu Sozialdumping kommt, wenn wir uns auf ein europäisches Modell einlassen.
Kirchhoff: Es ist ein Gebot der Subsidiarität, dass jedes Land seine Absicherung für sich regelt.

RP: Brauchen wir eine einheitliche Steuerpolitik in Europa?
Giesler: Ja, einheitliche Steuersätze verhindern, dass europäische Standorte gegeneinander ausgespielt werden. Thyssenkrupp etwa wollte doch auch deshalb den Sitz des Joint Ventures mit Tata nach Amsterdam verlegen, weil in den Niederlanden die Steuern niedriger sind und es keine gute Mitbestimmung gibt. Das ist nicht in Ordnung.

RP: US-Präsident Trump droht China und Europa mit immer neuen Zöllen. Was kann Europa tun?
Kirchhoff: Manchmal scheint die Welt nur noch aus zwei Großmächten, einer G2-Welt, zu bestehen – aus China und den USA. Europa muss dafür kämpfen, dass es wieder eine G3-Welt wird. Europa hat zwar nur sieben Prozent der Weltbevölkerung, aber 25 Prozent der Wirtschaftsleistung. Wenn die USA Europa mit Zöllen drohen, muss es darauf auch eine klare Antwort aus Brüssel geben.

RP: Die drei wichtigsten Aufgaben für Europa?
Giesler: Europäischer Mindestlohn, einheitliche Steuerpolitik, Investitionen in ein soziales Europa.
Kirchhoff: Mehr Investitionen in Infrastruktur und Innovationen, eine gemeinsame Energie- und Klimapolitik sowie die Schaffung eines europäischen Silicon Valley. Die Digitalisierung wird die Herausforderung für ganz Europa.


(Quelle: Rheinische Post / Interview: Antje Höning)

Zurück